Aus dem roten Nebel

© Ichweißes

© Ichweißes

Theo schaute in die Röhre. Abgehängt!
„Los, weiter!“
„Nur einen Moment abhängen.“ Er rutschte gleich neben dem Loch, aus dem er soeben gekrochen war, den Rücken an die Höhlenwand gelehnt, auf seinen Allerwertesten.
Dora stieß ihn mit dem Fuß an. „Glaubst du, wir sind hier sicher?“
Ihr Tonfall signalisierte, dass es sie nicht interessierte, was er glaubte. Aber er konnte nicht mehr. „Ich habe gerade so durch den Gang gepasst. Kein erwachsener Mann kommt da durch!“
„Du bist fett!“
Ihre Antwort versetzte ihm einen Stich. Es war nichts Neues, dass Dora ihn derart beleidigte. Aber hier! In dieser Situation! Zu zweit in einem riesigen Höhlensystem. Und in Lebensgefahr! Dabei war es ihre Schuld! „Hörst du etwas? Nein. Sie können uns nicht folgen.“
„Ich gehe! Du kannst hier gern verschimmeln. Einen Klops wie dich brauche ich sowieso nicht!“ Dora drehte sich um und verschwand in dem seltsamen, rot leuchtenden Nebel, der die Höhle ausfüllte.
„Warte!“ Theo hechelte ihr hinterher. Nichts konnte schlimmer sein, als hier allein zu bleiben. Auch war der Stolz, sie begleiten zu dürfen, noch nicht ganz verklungen. Schließlich hatte er seit Jahren davon geträumt. Wenn er dabei auch nicht an einen dunklen Ort wie diesen gedacht hatte, der obendrein vollgestopft war mit finsteren Gestalten, die ihnen an den Kragen wollten.

Sie wartete nicht und er hatte alle Mühe, sie einzuholen. „Wo willst du denn hin?“
„Hauptsache raus hier.“
„Was glaubst du, was es mit diesem Nebel auf sich hat?“
„Woher soll ich das wissen?“
Theo schob die Mütze zurück und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Doch sein Pullover war längst durchnässt. Das Weiß hatte einen rosafarbenen Ton angenommen. Wenigstens war es kein Schweiß. Nicht nur, jedenfalls. „Ist doch echt merkwürdiges Zeug. Wird immer dichter und …“
Unvermittelt blieb Dora stehen, puffte ihm in die Seite und zeigte nach vorn. Die Höhle war schon zu Ende. Sie standen direkt vor einer massiven Wand.
„Eine Sackgasse!“ Mit einem Schlag fühlte sich Theo noch unwohler als zuvor. Der enge Röhrengang hatte sich nicht als die Rettung sondern als Falle entpuppt.

Dora ging ein paar Schritte zurück und schaute nach oben. „Sieh mal!“
Er tat es ihr gleich. Zuerst sah er nur den roten Nebel, doch die Schwaden zogen sich auseinander, als wollten sie, dass er freie Sicht hatte. Auf dem Massiv zeichneten sich die Konturen eines riesigen Körpers ab. Sie waren bis hierher schon einigen solcher Figuren begegnet. Aber diese war um ein Vielfaches größer. Beine wie Säulen ließen sich nur erahnen. Klauenbewehrte Pranken waren zu Fäusten geballt und schienen die gesamte Felswand unter Spannung zu setzen. Der muskulöse Oberkörper ragte ein Stück aus dem Stein heraus, als wolle sich das Monstrum aus dem ewigen Gefängnis befreien. Von den breiten Schultern blickte ein Schädel herab, der an einen übergroßen Menschenaffen erinnerte. Doch das breite Maul war mit Raubtierzähnen bestückt und zwei meterlange Hörner schienen dem Wesen aus dem Nacken zu wachsen.

„Sieht aus, als hätten sie das Ding mitten in der Bewegung eingefroren.“
„Meinst du, das war mal lebendig?“ Theos Stimme überschlug sich.
Dora lachte. „Idiot!“ Sie schaute sich um. „Es muss doch einen zweiten Ausgang geben. Los, komm mit!“

Sie wandten sich nach rechts und begannen die Seitenwand abzusuchen. Der Nebel hatte seine Position verändert. Er schien sich dorthin verzogen zu haben, wo sie aus dem Gang gekommen waren, genau gegenüber von dem Affenwesen. Doch die bessere Sicht half ihnen nicht, ihre Suche blieb erfolglos.

„Uns bleibt nur der Weg zurück!“, bestimmte Dora.
„Und diese Typen?“
„Wir müssen eben hoffen, dass sie aufgeben. Vielleicht sind sie ja schon weg.“ Zielstrebig ging sie auf die wabernde rote Masse zu, die sich dort auftürmte, wo der Gang sein musste.

Ein Donnerschlag!
Theo schrie auf. Er drehte sich um, starrte das Steinungetüm an. Hatte sich die Figur bewegt?
„Sie sprengen den Gang!“, hörte er Dora aus weiter Entfernung rufen. Gleich darauf brannte seine Wange von einer Ohrfeige. „Du guckst in die falsche Richtung, du Trottel!“
Langsam verstand er. Er entspannte sich ein bisschen, stieß die angehaltene Atemluft aus, schielte zu Dora und rieb sich das schmerzende Gesicht. Mann, war das peinlich. Er versuchte seine Verlegenheit mit einem Lächeln zu überspielen.
„Was grinst du denn so blöd? Ist dir klar, was das bedeutet?“
Jetzt begriff er vollständig. Der Nebel vor dem Eingang mischte sich mit schwarzem Staub von der Sprengung. Er hatte den Geruch von Silvesterknallern in der Nase. „Was sollen wir denn bloß tun?“
Doras Blick tastete noch einmal die gesamte Höhle ab. Schließlich blieb er an Theo hängen. Sie zuckte mit den Schultern.
„Aber …“ Wie konnte sie so ruhig bleiben? „Wir …“
Eine zweite Explosion unterbrach ihn. Bildete er sich das ein oder klang das schon viel näher?
„Komm!“

Dieses Mal brauchte er keine weitere Aufforderung. Vielleicht wusste sie doch eine Lösung. Aber Dora lief nur zur gegenüberliegenden Wand und blieb dort stehen.
„Das war alles?“, schrie er sie an.
„Wie bekloppt bist du eigentlich? Es ist vorbei! Wir können nur abwarten.“
„Bekloppt? Mehr fällt dir dazu nicht ein? Weißt du, ich wollte gar nicht mit auf diese blöde Klassenfahrt. Das macht nämlich wenig Spaß als Klassenclown. Aber ich dachte, das kann ich ertragen, weil es schön ist, in deiner Nähe zu sein. Und das dachte ich auch, als du die idiotische Idee hattest, heimlich in die verbotenen Höhlen zu gehen. Deshalb war ich der Einzige, der den Mut hatte, dich zu begleiten. Ich hab gehofft, du würdest mich endlich mit anderen Augen sehen. Und wo hast du uns jetzt hingeführt?“
„Konnte ich wissen, dass hier irgendwelche miesen Typen irgendwas noch Mieseres aushecken? Außerdem hättest du ja nicht mitkommen müssen. Das war ja wohl ganz allein deine Entscheidung.“
Sie hatte recht. Daran gab es nichts zu rütteln. Aber er war sauer. Richtig sauer! Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. „Du …“
Sie unterbrach ihn, indem sie drohend den Finger erhob. Dann drehte sie sich weg und tippte sich mit demselben Finger an die Stirn. „Mit anderen Augen sehen. Was bildet der sich eigentlich ein?“

Ein Zittern durchfuhr die Höhle. Theo starrte sofort wieder zu dem Affenkopf. Der hatte das Maul aufgerissen. In den Wänden dröhnte es und das mächtige Steinwesen begann, rot zu leuchten.

Theo bemerkte erst, dass er sich rückwärts bewegt hatte, als er mit dem Rücken gegen die Eingangswand stieß. Dora war neben ihm. Er griff nach ihrer Hand. Für einen Moment fürchtete er, sie würde ihm dafür eine scheuern, dann beobachtete er, wie sich der Teufels-King-Kong aus dem Stein löste. Das ging so schnell, dass Theo im Nachhinein übel wurde, als er daran dachte, wie sie vor nur wenigen Minuten zu Füßen dieses Ungeheuers herumgewandert waren.

Jetzt schien es sie erst einmal nicht weiter zu beachten. Es streckte sich, schüttelte erst das linke, dann das rechte Bein und absolvierte ein paar ungelenke Kniebeugen.

„Wir sollten uns vielleicht verstecken“, flüsterte er, bewegte sich aber kein Stück.
„Wo denn, du Witzbold?“
„Vielleicht im Gang.“
Eine dritte Sprengung ertönte. Man hörte das Geröll poltern.
„Zu spät“, sagte Dora.
Der Affenriese schaute zu ihnen herüber. Seinen Sport hatte er offenbar beendet und kam jetzt auf sie zu. Er sah furchterregend aus. Warum brüllt er nicht? Theo konnte nicht länger über diese Frage nachdenken, denn für sein Gegenüber entsprach die Entfernung zwischen ihnen nur etwa drei Schrittlängen.

Jetzt war es auch egal. Er trat vor. „Lass sie in Ruhe! Ich dulde nicht, dass du ihr etwas tust!“
Der Affe stutzte und schaute ihn verwundert an. Theos Nacken begann zu schmerzen. Aber er blieb stehen, wo er war. Der Affe beugte sich vor und sog die Luft in die riesigen Nasenlöcher. Theo kam sich vor wie in einem Sturm. Er verlor beinahe den Boden unter den Füßen, während sich seine Mütze in Richtung der Affennüstern verabschiedete. Er mochte sie sowieso nicht. Der Affe atmete wieder aus und Theo landete unsanft auf dem Hintern. Seine Mütze fiel ihm vor die Füße. Grund genug, seine Strategie zu überdenken. „Friss mich! An ihr ist doch nichts dran.“
Wieder beugte sich das Riesenvieh vor. Diesmal allerdings streckte es seine Pranke aus und hob sie in die luftigen Regionen seiner Schnauze. Mit dem Finger deutete er an, Theo solle die Klappe halten, zeigte auf den Gang, aus dem man jetzt die Geräusche von Schaufeln und Hacken hörte, und machte schließlich eine Bewegung, die Theo als „Kusch, kusch!“ interpretierte.

Theo hielt dem durchdringenden Blick von Dora nicht stand. „Okay, okay, ich hab mich lächerlich verhalten.“
„Allerdings!“ Dora lachte. „Eine große Hilfe wärst du mir wohl nicht gewesen, du Held.“ Sie machte eine Pause. „Aber keine Sorge, ich war trotzdem ziemlich beeindruckt.“
Theo schaute auf.
Sie lächelte. Dann drehte sie sich zu dem Affen, der vor dem Gang saß und auf die Eindringlinge wartete. „Tja, dann lassen wir Ape mal seinen Job erledigen. Solange kommen wir hier eh nicht raus.“
„Und was machen wir in der Zeit?“
„Abhängen.“

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Vielen Dank für die Bildvorlage von erinnye. Schickt mir auch eure Bilder.

Malthorns Sohn

Foto: 3drenderings

Foto: 3drenderings

Thelkar starrte seine Mutter an. Die Jahre harter Arbeit hatten Furchen in Isgaldas Antlitz getrieben. Wie oft hatte er bei diesem Anblick beschämt zu Boden geschaut und sich geschworen, seinen Tagträumereien ein Ende zu bereiten, um den Eltern mit all seinen Kräften zur Hand zu gehen. Doch dieses Mal empfand er nur den aufkommenden Ärger, als er ihre traurigen Augen sah. Er wollte etwas erwidern, doch er entschied sich anders.

Thelkar ging hinaus und stellte seinen Vater, der auf einem Schemel vor dem Haus saß und seine Axt schärfte. Als er seinen Sohn kommen sah, richtete Malthorn sich auf und blinzelte in die Abendsonne. „Sind die Tiere schon versorgt?“
„Nein, Vater“, antwortete Thelkar und gab sich keine Mühe, seine Wut zu unterdrücken. „Du hast im Krieg gekämpft?“
Malthorn blickte ihn überrascht an. Sein ganzer Körper, alt, aber immer noch stark, straffte sich. Dann ließ er die Schultern sinken. Alle Kraft schien mit einem Mal aus seinem Gliedern zu schwinden und er ließ sich zurück auf den Schemel fallen.
„Ist es so?“, hakte Thelkar nach. Sein Zorn kannte kein Mitleid mit der Schwäche des Vaters. „Stimmt es, was mir meine Schwester erzählt und Mutter bestätigt hat?“
Malthorn bedeutet ihm, sich vor ihm auf dem Boden niederzulassen. Widerwillig folgte Thelkar.
„Du bist nun ein junger Mann, mein Sohn. Der Tag musste kommen, an dem du die Wahrheit erfährst, wenn ich ihn auch lieber selbst bestimmt hätte.“
Er schwieg lange. Thelkar hielt nur der Respekt zurück, seinen Vater zum Weitersprechen anzutreiben.

„Der Krieg ist ein Scheusal“, fuhr Malthorn endlich fort. „Deine Geschwister haben erlebt, was es heißt, um den Vater zu bangen, zu fürchten, er könne ihnen im Kampf für immer verloren gehen. Schlimmer noch: Sie mussten erfahren, wie es selbst denjenigen ergeht, die nicht für Reich und König in die Schlacht ziehen. Denn der Krieg fordert auch von den Daheimgebliebenen seine Opfer.“ Malthorn seufzte.
Thelkar fragte sich, worauf der Vater hinauswollte. Konnte er nicht einfach die Frage beantworten?
„Ja, mein Sohn, ich habe im Krieg gekämpft. Viele Male. Doch ich bin immer ein Holzfäller geblieben. Ich kämpfte, weil ich dazu gezwungen war, nicht weil ich ein Held sein wollte. Denn Helden sterben auf dem Schlachtfeld und kehren niemals heim. Der Krieg nimmt sie ihren Familien für immer.“ Malthorn sah ihn eindringlich an.
Thelkar hielt dem Blick nicht stand und schaute auf seine Hände. Hände, die sein ganzes Leben lang nur die Werkzeuge eines Holzfällers und Bauern geführt hatten. Ja, er wünschte sich so sehr, ein Held zu sein. Für Reich und König wollte er kämpfen und die Feinde mit dem Schwert vor sich hertreiben. Seit er laufen konnte, war jedes Stück Holz für ihn eine Waffe, mit der er unsichtbaren Gegnern entgegentrat oder dem Vieh des Vaters das Fürchten lehrte. Und seit er denken konnte, hatten ihn seine Geschwister, allen voran Asura, dafür verspottet. Seine Geschwister, die so sehr nach den Eltern kamen und keinerlei Verständnis für seine Träumereien aufbrachten.

„Und dann kam der Tag, an dem ich zum Helden wurde“, erzählte Malthorn weiter. „Es geschah ohne jede Absicht, dass ich den Befehlshaber des feindlichen Heeres besiegte, als ich mich nur meiner Haut erwehren wollte. So wendete ich die Schlacht und sie sangen Lieder über mich.“
Erstaunt betrachtete Thelkar den Vater. Es fiel ihm schwer, sich den Mann in glänzender Rüstung vorzustellen, bejubelt von Kameraden und Heerführern.
„Mir wurde klar, als Held würde ich mein Haus und meine Familie verlieren, denn man erwartete mich von nun an allzeit in vorderster Front. Also verriet ich Reich und König und kehrte zu deiner Mutter und deinen Geschwistern zurück.“
Thelkar konnte einen entsetzten Ausruf nicht unterdrücken. „Du, ein Verräter? Hat man dich denn nicht verfolgt?“
„Doch. Der Mann, der mich verfolgte, ein Feldwebel, stand schon am Morgen nach meiner Rückkehr an dieser Tür.“ Malthorn zeigte auf die Eingangstür des Blockhauses, in dem Thelkar sein ganzes Leben verbracht hatte. „Aber er sah keinen Kriegshelden, sondern nur einen einfachen Holzfäller, der bei seiner Familie leben wollte, um sie zu beschützen. Er ist es, dem ich mein Leben verdanke und der auch in all den Jahren dafür gesorgt hat, dass weder ich noch meine Söhne in Kriege ziehen mussten, die nicht die unseren waren.“
Wieder schwieg Malthorn für einen Moment. Dann fuhr er fort: „Und auch du verdankst diesem Mann dein Leben, denn in der folgenden Nacht wurdest du gezeugt. Daher gaben wir dir seinen Namen.“

Nun war es Thelkar, der sich in nachdenkliches Schweigen hüllte. „Warum habt ihr mich belogen?“, fragte er schließlich.
„Schon, als du noch ein kleines Kind warst, konnten deine Mutter und ich in deinen Augen lesen, dass du anders bist als deine Geschwister. Wir ahnten, du würdest stets das Abenteuer suchen und der Krieg könnte dir keinen Schrecken einjagen. Um dich nicht zu verlieren, erzählten wir dir, dass der Fürst Menschen wie dich und mich nicht für den Dienst an der Waffe brauche. Wir wollten dich glauben machen, du würdest, selbst wenn du es wolltest, allenfalls für niedere Dienste abberufen. Doch glaube mir, mein Sohn, es kann keinen schlechteren Dienst als den an der Waffe geben. Also verzeihe uns die Lügen, denn wir sprachen sie aus Liebe und in Sorge um dich. Willst du mir versprechen, das Heldentum ein für alle Mal zu vergessen?“
Thelkar nickte langsam, schwieg aber und bat darum, sich zurückziehen zu dürfen.

Sein Ärger war verflogen. Nie hatte er sich ganz mit seinem vermeintlichen Schicksal abfinden können. Doch nun wusste er, dass er den Namen eines Kriegsmannes trug. „Thelkar!“ Er sprach ihn aus und empfand einen ganz neuen Klang dabei. Noch einmal sagte er ihn, lauter jetzt. Und schon im selben Moment fasste er einen Entschluss. Noch heute Nacht wollte er sich auf die Suche machen nach dem Mann, dessen Name er seit 16 Jahren trug. Seinen Eltern würde er nichts davon erzählen. Denn er, Thelkar, wollte Thelkar berichten, dass er bereit sei, endlich die Schuld des Vaters an Reich und König abzutragen.

Basierend auf der Geschichte „Lass sie nicht von dir singen“ von Klaus Mundt, erschienen in „Geschichten eines Krieges“, vph 2008.

Blutweg

Blutweg

Jacky schaute ihn herausfordernd an. „Na, immer noch die große Klappe?“
Martin blickte sich um. „Ist doch schön hier.“
„Warte, gleich geht die Sonne unter.“ Sie setzte sich auf einen großen Baumstumpf.

Martin blickte sich um. Schon jetzt war er sich nicht mehr ganz sicher, ob an den Gruselgeschichten, die Jacky ihm erzählt hatte, nicht doch etwas dran war. Der Monsterwald! Er hatte Jacky ausgelacht, als sie behauptete, das sei nicht nur so ein Name. Gab es hier vielleicht wirklich unheimliche Wesen? So ein Quatsch! Immerhin wies ein Weg darauf hin, dass sehr wohl Menschen unter den Bäumen spazierten. Und er sah aus wie jeder andere Weg auch. Der Blutweg! Von wegen.
Er bemerkte das Lächeln Jackys, mit dem sie ihn beobachtete. Mit einem Schulterzucken setzte er sich neben sie. „Ich kann nichts Besonderes entdecken.“ Er gab seiner Stimme einen betont gelangweilten Ausdruck. Dabei sorgte allein die Tatsache, dass er hier neben Jacky saß, für ein Kribbeln in der Bauchgegend.
„Schau!“, sagte sie nur und zeigte nach oben.
Es war ein großartiges Schauspiel. Wie in Zeitlupe entflammte der Himmel und die Wolken sogen sich mit roter Farbe voll.
„Schau!“, sagte Jacky wieder, doch dieses Mal zeigte sie direkt vor sich. „Der Blutweg!“
Jetzt verstand Martin. Von einem Moment zum anderen hatte sich alles verwandelt. Die Bäume hüllten sich in eine Dunkelheit, als sei die Sonne bereits vollständig untergegangen. In den Kronen rauschte ein Wind, der hier unten nicht zu spüren war. Der Weg aber schimmerte in einem dunklen Rot. Und als wolle er den Wanderer über sein Ziel verunsichern, verschwand er nach nur wenigen Metern zwischen den Bäumen. Keine zehn Pferde würden Martin dazu bringen, diesem Weg zu folgen.

„Habe ich es doch gewusst. Du bist ein Schisser wie alle anderen.“ Jacky musste seine Gedanken gelesen haben.
„Nein, bin ich nicht.“ Es überzeugte ihn selbst nicht. Gab es keine Möglichkeit, aus dieser Situation heil rauszukommen? Er war so froh gewesen, als Jacky endlich ein bisschen Interesse für ihn gezeigt hatte. Endlich bekam der Umzug in dieses Kaff einen Sinn. Doch jetzt stellte sie ihn auf eine harte Probe. Er war sich sicher, würde er jetzt kneifen, hätte er alle Chancen bei ihr verspielt. „Lass uns gehen!“

Mit jedem Schritt bereute er seine Entscheidung mehr. Und mit jedem Schritt stieg seine Bewunderung für Jacky. Wenn sie von derselben Angst heimgesucht wurde wie er, ließ sie es sich nicht anmerken. Trotzdem. Mit diesem Wald stimmte irgendetwas nicht. Unter den Bäumen war es kühl. Und obwohl die Sonne längst untergegangen war, warfen die Bäume lange Schatten. Dass es nicht völlig dunkel war, lag einzig an dem merkwürdigen Weg, der auch jetzt noch rot schimmerte, als habe die verschwundene Sonne seinen Akku für die gesamte Nacht aufgeladen. Und je weiter sie kamen, desto sicherer war Martin, dass er sich den Geruch von Blut nicht nur einbildete.
Wenn er sich wenigstens durch ein Gespräch mit seiner hübschen Begleiterin ablenken könnte. Doch er wusste nicht, was er sagen sollte, und fürchtete, seine Stimme nicht kontrollieren zu können. Sein Mund war trocken, seine Kehle rau. Um sich die Lippen zu befeuchten, musste er seine Zunge vom Gaumen losreißen. Es war sowieso nur ein Reflex, denn die Zunge war selbst nicht wirklich feucht.
Jacky wirkte dagegen wie Alice im Wunderland. Mit ihren großen Augen sog sie die verzerrten Bilder auf, die die Lichtkegel der Taschenlampen erzeugten, als ginge sie durch einen Freizeitpark. Martin hätte die ewig gleichen Eindrücke wahrscheinlich als gähnend langweilig empfunden, wäre da nicht dieser eine, der alles dominierte: Der Wald wurde immer feindseliger, die Nacht immer dunkler und die Stille immer drückender.

Nach etwa einer Stunde hielt er es nicht mehr aus. „Hattest du nicht gesagt, der Wald sei klein?“ Es war nur ein Flüstern, aber er hatte plötzlich das Gefühl, er habe den Monsterwald jetzt erst richtig auf sich aufmerksam gemacht.
„Ist er ja auch. Vielleicht noch eine viertel Stunde, dann hast du es hinter dir, du Schisser.“
„Ich bin kein …“ Ein Knacken brachte ihn zum Schweigen.
Auch Jacky blieb stehen. Mit der Taschenlampe suchte sie ein dichtes Gebüsch ab, während das Licht aus Martins Stablampe zwischen den Stämmen hin und her zitterte.
„Was war das?“, keuchte er.
„Psssst!“
Es raschelte genau dort, wo Jacky hinleuchtete. Mit einem kräftigen Klopfer, setzte Martins Herzschlag aus. Wieder krachte es im Unterholz, dann brach sich etwas einen Weg durch die Zweige.

Martin rannte! Sein Herz schien die Sekunden, die es sich frei genommen hatte, doppelt und dreifach nachholen zu wollen. Und es verstopfte ihm die Kehle. Doch er rannte immer weiter. Das Monster war direkt hinter ihm. Er konnte seinen keuchenden Atem hören.

Martin schaute nicht zurück, sah kaum den schimmernden Weg vor sich. Er bemerkte nicht einmal, wie er die Bäume hinter sich ließ, und es dauerte noch mal eine Weile, bis ihm klar wurde, dass ihn niemand mehr verfolgte. Er blieb stehen, stützte die Hände auf die Knie und versuchte, seine Atmung in den Griff zu bekommen. Dabei lauschte er angestrengt auf etwaige Geräusche.

Der Mond tauchte die Felder in fahles Licht und den Weg in ein silbriges Blau. Langsam drehte Martin sich um. Noch immer wirkte der Wald bedrohlich. Martin richtete sich kerzengerade auf, als er eine Bewegung wahrnahm. Täuschte er sich? Nein, da kam eine Gestalt den Weg herauf. Martin spannte die Muskeln an. Ein Licht flammte auf. Das Licht einer Taschenlampe. Es war Jacky, die ihm zuwinkte.

Als sie bei ihm war, gab sie ihm seine Stablampe. „Hier, die hast du fallenlassen.“
„Danke“, flüsterte er.
„Schisser!“
„Ich bin …“
„Läuft vor einem Vogel davon!“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ein Vogel?“
„Aber schnell und ausdauernd bist du, das muss man dir lassen. Ich bin die Schnellste in der Klasse. Aber am Waldrand hab ich aufgegeben.“
„Du?“
Sie nickte.
„Meinetwegen, bin ich eben ein Schisser. Mir egal, wenn du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Aber ich geh nicht wieder durch diesen Wald. Wenn du auf demselben Weg zurückgehen möchtest, dann ohne mich!“
Jacky lachte. „Komm, da drüben ist gleich die Straße. Meine Güte, mit dir erlebt man Abenteuer.“ Sie klopfte ihm auf die Schulter.

Martin ärgerte sich über sich selbst. Ein Vogel! Konnte das wahr sein? Er betrachtete Jacky verstohlen von der Seite, als sie das Dorf erreichten. Und im Licht einer Straßenlaterne sah er die Tränen, die ihr über die schönen Wangen liefen.

Entscheidungen

Immer wieder schwierig. Zur Zeit bin ich von den Aufträgen her gut ausgelastet. Nun überlege ich, ob ich mich dennoch auf eine Art Stellenausschreibung bewerbe. Es geht um Ghostwriting, allerdings weiß ich noch zu wenig über den Job (nicht übers Ghostwriting). Ich denke, ich werde mich erst einmal kundig machen. Danke fürs Zuhören. Das hilft.