Hungrige Mäuler

Da stehe ich doch neulich an einem Asia-Imbiss und warte, dass meine Bestellung fertig wird. Außer mir wartete unter anderem noch eine Familie, die sich freundlicherweise zu allererst den letzten freien Tisch gesichert hatte, weshalb ich im Stehen wartete, mit der Aussicht in eben dieser Position auch die Mahlzeit einzunehmen. Na ja, ich bin ja noch jung.

Mein Essen wurde gleichzeitig mit einem derer vom Familientisch fertig, weshalb man sowohl mich als auch eines der Familienmitglieder heranwinkte.

Die junge Frau, die daraufhin aufsprang und zum Tresen stürmte, erreichte diesen kurz vor mir und griff sich beide Teller. Weder dem vorsichtigen Hinweis meinerseits noch dem aufgeregten Gestikulieren des Imbissers schenkte sie weitere Beachtung, marschierte stattdessen zu dem ebenso forsch eroberten Tisch zurück.

Ein weiterer Versuch blieb erfolglos. In Ermangelung eines Namens sprach ich sie ein drittes Mal mit „Hallo“ an, wobei ich in der Annahme, meine Stimmgewalt sei bis dahin nicht ausreichend gewesen, den Lautstärkeregler um einen kleinen weißen Strich nach oben schob.

Ein wütendes Schnauben entwich den grimmassierenden Mundwinkeln der wohlerzogenen Dame, gefolgt von einem: „Is ja gut!“

Ich konnte meine Mahlzeit im Anschluss kaum noch genießen, fragte ich mich doch die ganze Zeit, ob es unrecht war, was ich tat, ob ich die Familie nicht wenigstens erst einmal in Ruhe und jeden für sich hätte probieren lassen sollen, ob es sich wirklich nicht um ihre Bestellung handelte, oder ob es gar vermessen war, diesen Anspruch überhaupt geltend zu machen.

Schließlich hätte ich ja ein weiteres Mal bestellen und bezahlen können. Mit etwas Glück wären bis dahin alle anderen hungrigen Mäuler gestopft gewesen. Ich hätte natürlich dann noch einmal fragen müssen, ob sich nicht irgendwer mein Essen für schlechte Zeiten einpacken lassen wollte.

Eintopf

Foto: Philipp Bobrowski

Alex stellte die Dose auf die Arbeitsfläche. Er stutzte. Hatte sich die Dose bewegt? Und hatte er gerade ein leises Schmatzen gehört? Ein Schmatzen aus der Dose?

So ein Quatsch! Einbildung. Oder der Erbseneintopf war durch das Abstellen in Bewegung geraten.

Alex suchte nach dem Dosenöffner. Natürlich! Wieder ganz unten in der Schublade. Wohl zum hundertsten Mal ärgerte er sich, dass er sich noch keinen neuen gekauft hatte. Das Billiggerät strotzte vor Rost. Selbst ohne Dose bedurfte es schon einer Kraftanstrengung, das kleine Zahnrädchen zu einer Drehung zu verleiten. So artete der schnelle Eintopf zwischendurch zu richtiger Küchenarbeit aus.

Alex kam regelrecht ins Schwitzen, bevor er auch nur in die Hälfte des Deckels eine schmale Öffnung geschnitten hatte. Er legte eine Pause ein.

Als er sich an die zweite Hälfte begeben wollte, zuckte er zurück. Wie eklig war das denn? Aus dem noch frischen Spalt zwischen Deckel und Dosenrand kroch eine fette Made. Der weiße Körper war feucht und pelzig. Ihr folgte eine weitere. Dann eine dritte.

Alex hielt sich die Hand vor den offenen Mund, brachte Abstand zwischen sich und die Dose und beobachtete mit einer angewiderten Faszination, wie sich immer mehr der weißen Viecher über den gar nicht mehr appetitanregenden Dosenaufdruck schleimten, um dann ihren Weg auf seiner Arbeitsplatte fortzusetzen. Krochen sie tatsächlich alle auf ihn zu?

Über den Anblick der Maden hatte er die Dose ganz vergessen. Plötzlich gab es einen Knall. Langsam hob sich der Deckel. Alex machte eine Art Tentakel aus. Dann schob sich der Körper des Untieres hinterher. Es sah aus wie eine dickleibige Spinne, deren Beine den Fangarmen eines Kraken ähnelten. Mit großen Saugnäpfen hielt es sich am Blech der Dose fest. Von den zangenartigen Kiefern, die mit einem klickenden Geräusch stetig auf und zu schnappten, tropfte zähflüssiger Speichel. Erstaunlich intelligente Augen starrten Alex an.

Er rümpfte die Nase. Es roch nach halb verdautem Eintopf, Fäulnis und Fisch.

Eigentlich war dieses Ding gar nicht so groß. Sonst hätte es auch kaum in die Büchse gepasst. Allerdings begann es jetzt mit seltsamen, fast wiegenden Bewegungen vor und zurück zu schaukeln, als wolle es Schwung holen. Dabei war sein Blick weiter starr auf Alex gerichtet. Und je länger er dem Wesen in diese faszinierenden Augen schaute, desto klarer wurde ihm: Es wollte wachsen. Es hatte noch immer Hunger.

Schon spürte er die ersten Maden an seinen Beinen hochkriechen. Er glaubte beinahe das Knabbern zu hören. Doch das war jetzt nicht mehr wichtig, denn in den Augen seines Gegenübers konnte er es lesen: Der Erbseneintopf war nur der Anfang gewesen.