Rühren

© Mircea BEZERGHEANU

© Mircea BEZERGHEANU

Sie atmete tief ein, nahm sich Zeit. Langsam fuhr sie seine Konturen nach. Mit ihrer Zunge benetzte sie sich die Lippen, als sie das Muster seiner Bauchmuskulatur abtastete. Für einen Moment lehnte sie sich zurück, wollte sein Bild voll und ganz in sich aufnehmen. Ihre Finger zitterten ein wenig, während sie die klare Linie seiner Brust nachempfanden. Ein sehnsüchtiger Schwung fester Knospen. Noch einmal nahm sie den Kopf zurück, schloss die Augen. Das Kunstwerk seines Körpers verschwand nicht. Sie sprach leise zu ihm, widmete sich seinem Gesicht. Der Bogen seiner Brauen überspannte zwei Tore in eine geheimnisvolle Welt. Sein Nasenrücken eine Straße ins Paradies. Der leicht geöffnete Mund eine verspielte Einladung. Ihr Blick verfing sich in diesem Bild. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, ihr Atem stand still.

Endlich löste sie sich, ihr Blick wurde klar und wandte sich ihm zu. „Rühren!“, rief sie, lachte und legte den Pinsel beiseite.

Nein!

© Aga & Miko (arsat)

© Aga & Miko (arsat)

Jan stand der Mund offen. „Was hast du gesagt?“
„Nein!“ Tilo fiel es gar nicht schwer. Er zitterte nicht einmal.
Jan lachte und drehte sich zu Lukas um. „Hast du das gehört?“
Lukas nickte, schaute Jan einen Moment lang verunsichert an und stimmte dann in das Lachen ein.
„Unser kleiner Hosenscheißer wird plötzlich mutig.“ Jan wandte sich wieder Tilo zu. „Jetzt aber Schluss mit den Faxen! Rück die Kohle raus!“
„Nein!“ Es überraschte ihn selbst, wie entschieden das klang. Es würde die beiden nicht abhalten, das wusste er genau. Er hatte es längst zu spüren bekommen. Es war Monate her, doch er hatte es noch gut in Erinnerung. Die Schläge und Tritte, vor allem aber die Schmerzen. Jetzt lächelte er. „Heute brauche ich mein Taschengeld noch.“
„Wofür?“ Jans Frage klang nicht wirklich interessiert. Eher ein bisschen ratlos.
„Das geht dich nichts an. Nicht für mich jedenfalls.“ Tilo dachte an Anna. Würde sie ihn bewundern, wenn sie ihn jetzt sehen würde? Den Außenseiter, der nach der langen Zeit der Erniedrigung erstmals den Brutalos der Schule Paroli bietet. Er wusste es besser. Den größten Mut hatte er nur eine halbe Stunde zuvor aufgeboten. Nun war alles ganz leicht.

„Hosenscheißer! Konzentrier dich mal! Ich dachte, du hättest verstanden.“ Jan zeigte ihm seine Faust und Lukas tat es ihm nach. „Dein Taschengeld gehört uns. Keine Ausnahmen!“

Tilo zog den sauber gefalteten Schein aus der Hosentasche. Er hielt ihn hoch. Dann schloss er seine zierlichen Finger um die zehn Euro, presste sie an die Brust, drehte sich um und legte sich bäuchlings auf den Bürgersteig.

Er begann zu zählen. Bis zur Neun kam er, bevor er die Spitze von Jans Schuh zum ersten Mal in der Leiste spürte. Er krümmte sich, gab damit Lukas von der anderen Seite noch mehr Angriffsfläche. Er wand sich unter den Tritten, während sich die beiden an seinem Körper nach oben vorarbeiteten.

Gern hätte er wenigstens sein Gesicht geschützt, doch beide Hände verkrampften sich wie von selbst um den Geldschein. Zehn Euro, mit denen er heute Nachmittag Anna zu einem Eisbecher einladen durfte. Er konnte es noch gar nicht glauben: Sie hatte Ja gesagt!

Leben

Leben

Er lebte noch! Hatte den unmöglichen Weg hinaus gefunden, vorbei an den Sicherheitsschützen, menschlichen wie computergesteuerten. Hinaus ins Unmögliche. In die Todeszone, die ihm letztlich das Leben nehmen musste.

Denn nichts Lebendiges konnte hier existieren, außerhalb der Stadtmauern. Das hatte man ihn von Kindesbeinen an gelehrt.

Doch längst hatte ihn alles Leben verlassen, noch in der großen Stadt. Ein letzter Wunsch war sein einziger Antrieb gewesen: Die Grenze zu überschreiten und selbst zu prüfen, ob es wahr war, was man ihm beigebracht hatte, selbst wenn er damit auch seinem Körper den Tod brachte.

Weiter und weiter ging er, erwartete jeden Moment zu sterben und hoffte, vorher noch etwas zu sehen, das mehr war als toter Stein.

Und dann sah er es: Ein Gebilde, wie er noch nie zuvor eines gesehen hatte. Zart war es und klein. Auf einem grünen Stiel ragte es aus den Steinen hervor, denn selbst war es kein Stein und angefüllt mit Farbe. Hell leuchtete ein roter Kopf, der aus unzähligen kleinen Kügelchen zu bestehen schien und in dem Federn steckten, weißblau und weitaus gleichmäßiger als die der Grauvögel.

Sie fingen seine Tränen auf, als er erkannte, dass er das Leben in der Todeszone entdeckt hatte.

 

Leben
Er lebte noch! Hatte den unmöglichen Weg hinaus gefunden, vorbei an den Sicherheitsschützen, menschlichen wie computergesteuerten. Hinaus ins Unmögliche. In die Todeszone, die ihm letztlich das Leben nehmen musste.
Denn nichts Lebendiges konnte hier existieren, außerhalb der Stadtmauern. Das hatte man ihn von Kindesbeinen an gelehrt.
Doch längst hatte ihn alles Leben verlassen, noch in der großen Stadt. Ein letzter Wunsch war sein einziger Antrieb gewesen: Die Grenze zu überschreiten und selbst zu überprüfen, ob es wahr war, was man ihm beigebracht hatte, selbst wenn er damit auch seinem Körper den Tod brachte.
Weiter und weiter ging er, erwartete jeden Moment zu sterben und hoffte, vorher noch etwas zu sehen, das mehr war als toter Stein.
Und dann sah er es: Ein Gebilde, wie er noch nie zuvor eines gesehen hatte. Zart war es und klein. Auf einem grünen Stiel ragte es aus den Steinen hervor, denn selbst war es kein Stein und angefüllt mit Farbe. Hell leuchtete ein roter Kopf, der aus unzähligen kleinen Kügelchen zu bestehen schien und in dem Federn steckten, weißblau und weitaus gleichmäßiger als die der Grauvögel.
Sie fingen seine Tränen auf, als er erkannte, dass er das Leben in der Todeszone entdeckt hatte.Er lebte noch! Hatte den unmöglichen Weg hinaus gefunden, vorbei an den Sicherheitsschützen, menschlichen wie computergesteuerten. Hinaus ins Unmögliche. In die Todeszone, die ihm letztlich das Leben nehmen musste.Denn nichts Lebendiges konnte hier existieren, außerhalb der Stadtmauern. Das hatte man ihn von Kindesbeinen an gelehrt.

Doch längst hatte ihn alles Leben verlassen, noch in der großen Stadt. Ein letzter Wunsch war sein einziger Antrieb gewesen: Die Grenze zu überschreiten und selbst zu überprüfen, ob es wahr war, was man ihm beigebracht hatte, selbst wenn er damit auch seinem Körper den Tod brachte.

Weiter und weiter ging er, erwartete jeden Moment zu sterben und hoffte, vorher noch etwas zu sehen, das mehr war als toter Stein.

Und dann sah er es: Ein Gebilde, wie er noch nie zuvor eines gesehen hatte. Zart war es und klein. Auf einem grünen Stiel ragte es aus den Steinen hervor, denn selbst war es kein Stein und angefüllt mit Farbe. Hell leuchtete ein roter Kopf, der aus unzähligen kleinen Kügelchen zu bestehen schien und in dem Federn steckten, weißblau und weitaus gleichmäßiger als die der Grauvögel.

Sie fingen seine Tränen auf, als er erkannte, dass er das Leben in der Todeszone entdeckt hatte.

Größe ist relativ

Foto: Péter Gudella

Foto: Péter Gudella

Norma saß auf dem Bett im Schlafzimmer. Sie sah aus wie eine Skipiste im Sommerurlaub. Doch das Schmelzwasser, das aus ihren geweiteten Augen rann, veränderte ihren Zustand nicht.
„Wo?“ Martin konnte es nicht lassen, seiner Stimme einen genervten Unterton zu verleihen.
„Hab ich doch gesagt!“, schrie sie ihn an. Ihre Stimme überschlug sich. So hysterisch hatte er sie noch nie erlebt.
„Im Gartenhaus also?“
Sie nickte und sah ihn flehentlich an. In ihrem Blick fand er einen Ausdruck, den er nicht deuten konnte. Sie sah schrecklich aus. Er vergaß seinen Ärger, setzte sich neben sie und legte seinen Arm um sie.
Norma zitterte und reagierte nicht auf den zärtlichen Kuss.
„Was ist denn los? So schlimm war es doch noch nie?“
Sie riss sich los und boxte ihm mit ihren kleinen Fäustchen auf die Brust. „Sie ist riesig!“
„Es ist eine Spinne!“ Der Ärger meldete sich zurück. „Dafür musstest du mich extra anrufen und aus dem Büro holen?“ Schon am Telefon hatte sie so anders geklungen, sodass er sich schließlich ergeben hatte. Seiner Sekretärin hatte er etwas von einem Unfall erzählt. Was sollte sie von der Frau des Chefs denken, wenn sie erfuhr, dass sie ihn wegen einer Spinne nach Hause holte? Den Klatsch wollte er Norma und sich selbst ersparen.
Norma antwortete nicht, bibberte nur weiter vor sich hin und starrte auf den
Teppich. Er stand auf. „Na, dann werde ich mir das Tierchen mal ansehen.“
Norma erwachte. „Geh nicht!“
„Es ist eine Spinne“, wiederholte er.
Norma sprang auf und klammerte sich an seinen Arm. „Es ist ein Monster!“
„Das hast du mir aber am Telefon noch nicht gesagt“, scherzte er. Er fühlte ein Unbehagen. Nicht wegen der Spinne, aber irgendetwas stimmte nicht mit seiner Frau. Norma hatte alle Arten von Insekten schon immer gehasst, derart panisch kannte er sie jedoch nicht. Wieder sah er diesen seltsamen Ausdruck in ihren Augen. War sie verrückt geworden? Das konnte einem ja Angst machen.
„Bleib bei mir!“ Sie wimmerte wie ein kleines Mädchen. Ihr Griff aber war fest.
Er fühlte sich plötzlich wie gefesselt, suchte Schutz in einem harten Tonfall. „Lass mich los! Was ist denn bloß mit dir? Reiß dich zusammen und werd mal wieder normal!“
Von einem Moment zum nächsten ließ sie ihn los. Sie schaute ihn an, traurig und zugleich auf eine neue Art seltsam. „Du hast recht. Geh nur. Ich werde hier warten.“
„Na also, es geht doch.“ Martin wunderte sich ein wenig über Normas Stimme, aus der jedes Zittern verschwunden war, während er durchs Wohnzimmer in den Garten ging.

Auf dem Weg zum Gartenhäuschen, dessen Fenster von den hässlichen Blumenvorhängen verschandelt wurden, die Norma letzten Monat wegen der gnadenlosen Sonne gekauft hatte, fragte er sich, wie groß das Exemplar wohl sein könnte, das ihr solch einen Schrecken eingejagt hatte. Wahrscheinlich eine dieser Gartenkreuzspinnen. Die wurden wirklich riesig. Im letzten Sommer hatte er seiner Frau zuliebe eine töten müssen, deren Körper einem schon aus mehr als zwanzig Metern Entfernung ins Auge stach. Groß wie eine fette braune Kirsche. Den Spaten, dessen Rückseite vollständig mit dem Blut und den Körperteilen der Leiche eingesaut gewesen war, hatte er entsorgt.

Jetzt griff er nach dem neuen Spaten. Ein bisschen aufgeregt war er schon. Um ihn herum war alles merkwürdig still. Selbst die immer gegenwärtigen Vögel schienen den Atem anzuhalten. Vielleicht beobachten sie mich, dachte er und kicherte. Immerhin musste das „Monster“ noch da drinnen sein. Wie auch immer es Norma fertiggebracht hatte – die Tür des Häuschens war zu.

Er kam gar nicht hinein! Es war kein Platz mehr im Gartenhaus. Er starrte in das haarige Antlitz der Spinne. Gigantische Augen sahen ihn an. Er war so baff, dass er Wurzeln schlug. Da wird der Spaten wohl nicht ausreichen, dachte er noch, dann brach der massige Körper des Ungetüms mit solcher Wucht durch die Holzwand, dass nicht nur die Blümchenvorhänge das Zeitliche segneten.

Der Biss war kurz und schmerzhaft. Er spürte, wie ihm die riesigen Kiefer die Rippen brachen. Das Gift wirkte schnell und half ein wenig gegen das Schwindelgefühl, als die Spinne begann, ihn zwischen ihren Vorderbeinen zu drehen. Er ahnte, dass er nicht lange abhängen würde. Wenigstens musste er sich so nicht ewig mit dem Gedanken herumquälen, dass er Norma besser vertraut hätte.

Blogroman: 37 – Kein Blut

Tom schrie auf und stürzte zu dem Jungen hin. Er konnte sich nicht auf den Beinen halten, kroch die letzten Meter. Das Kind lag vor ihm, noch war die Schusswunde im Rücken nur als sauberes Loch in der Jacke zu erkennen. Kein Blut, dachte Tom und drehte den Jungen um. Große Augen sahen ihn an, der Körper erschlaffte in Toms Armen. Erneut schrie er den Schrecken und die Wut aus sich heraus. Wie aus weiter Ferne hörte er Schritte auf sich zukommen. Doch zum ersten Mal war ihm sein eigenes Leben egal.

Was bisher geschah