Schlaf geprüft

Offenbar habe ich im Zug einen so guten Schlaf, dass währenddessen jemand, nicht, ohne vorher die Abteiltür aufzuschieben, problemlos ins nur von mir besetzte, abgedunkelte Abteil spazieren, mein Smartphone vom Ladekabel trennen und mit ersterem verschwinden kann, nicht, ohne die Abteiltür wieder zu schließen.

Merk ich mir!

Ausgiebiges Frühstück

Ein nicht wirklich ausgeschlafener Morgen im Nachtzug nach Wien. Der Schaffner bringt meinem schon in anderer Weise auffällig gewordenen und augenscheinlich hungrigen Sitznachbarn auf einem kleinen Tablett das bestellte Frühstück: Kaffee, zwei Tütchen Zucker, ein Döschen Milch, zwei Brötchen, ein Päckchen Butter, ein Döschen Erdbeermarmelade.

Mein Abteilkamerad zahlt, bedankt sich mehrmals höflich bis überschwänglich, stellt das Tablett auf dem gegenüberliegenden Sitzplatz ab und beginnt mit den Vorbereitungen. Er öffnet eine der Zuckertüten und gießt deren Inhalt in den Kaffeebecher, um die gleiche Prozedur auch auf Zuckertütchen Nummer zwei anzuwenden. Die Milch beachtet er nicht.

Eine Weile rührt er andächtig mit dem mitgelieferten Plastiklöffel, während sein Fuß ungeduldig auf und ab wippt. Dann widmet er sich der Butter, deren Verpackung er derart öffnet, dass sie dem nun frei liegenden, schätzungsweise zwanzig Gramm schweren weißen Fettquader als Unterlage dient. Er legt ihn zurück auf das Tablett.

Nun öffnet er das Marmeladendöschen. Anschließend nimmt er das ebenfalls beiliegende Plastikmesser zur Hand, um, wie ich vermute, eines der Brötchen aufzuschneiden. Er aber beachtet keines der beiden Bäckereiprodukte, nimmt stattdessen wieder die Butter zur Hand und versucht, ihr mit dem Messer in einem von etlichen Pannen begleiteten Kampf eine Scheibe abzuringen.

Auch als ihm das endlich gelungen ist, lässt er die Brötchen links liegen, balanciert das fettige Stück vom Messer auf den ja bereits erwähnten Löffel und taucht diesen in die Marmelade. Ich würde, wenn mich die Faszination nicht daran hinderte, meinen Blick abwenden, als er das etwas andere Rot-Weiß zum Munde führt.

Später, mein Sitznachbar wechselt auf der Zugtoilette gerade sein verschmutztes Hemd, fragt mich der Schaffner, ob er das Tablett wohl schon abräumen kann. Sein Blick drückt angesichts der noch immer jungfräulichen Brötchen eine gewisse Verwunderung aus.

Ich nicke. Zum Draufschmieren ist eh nix mehr da.

Wien

© vesna cvorovic

© vesna cvorovic

Wenn dieser Artikel erscheint, bin ich bereits auf dem Weg nach Wien. Ich sitze also gerade im Zug und werde heute Abend ankommen. Ein paar Tage in der Heimatstadt meiner Freundin. Mit meiner Freundin! Ein kleines Programm hat sie schon für mich zusammengestellt. Unter anderem in den Tiergarten geht es, auf den Prater und in die Hofreitschule. Vor allem aber werde ich beim Wiener Montségur-Autorenstammtisch zum Ehrenwiener erklärt.

Bin schon ganz aufgeregt. Hätte mir vor ein paar Jahren jemand erzählt, ich würde mal nach Wien fahren, um dort Kollegen und Freunde wiederzutreffen, hätte ich ihm wahrscheinlich einen Vogel gezeigt. Ganz besonders, wenn er behauptet hätte, ich würde dort auch meine Freundin treffen.

Noch nicht zu spät

Noch nicht zu spät

© dpaint

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Hand übertrug ihr Zittern über das Handy an sein Ohr.
Claudia versuchte ihn zu beruhigen. „Noch mal langsam. Was ist passiert?“
„Der Wagen hat eine Panne. Den Zug hab ich auch nicht geschafft. Mit dem nächsten komme ich zu spät. Bormann wird toben. Alles futsch!“ Er gab sich keine Mühe, seine Verzweiflung zu verbergen. „Die Beförderung kann ich vergessen.“
„Bist du noch am Bahnhof? Ich komme und fahr dich.“
Ihm rutschte das Handy aus der Hand. Im letzten Moment konnte er es auffangen. „Aber dein … deine …“
„Ich rufe Frau Brink gleich an, um zu verschieben. Ich weiß doch, wie wichtig der Termin für dich ist.“
Er atmete auf. „Für uns, Schatz, für uns.“ Er betonte es so sehr, dass ihm die anschließenden Sekunden wie ein schweigendes Jahrhundert vorkamen.
„Für deine Karriere.“

Der Motor lief, als er zu ihr in den Wagen stieg.
„Wie lange werden wir brauchen?“
„Das kommt darauf an, wo du hinmöchtest.“
Diesmal war es an Claudia, Überraschung zu zeigen. „Wie bitte?“
„Gönnen wir uns einen schönen Tag zu zweit.“

Verhandlungsgeschick

Foto: c.

Foto: c.

„Was soll das kosten?“, fragte ich und zeigte auf einen gelben Plüschaffen mit schwarzen Streifen.
„17,99 Euro“, lautete die knappe Antwort.
„Aha“, erwiderte ich dem Verkäufer, dem die Gier aus den knapp neben den Koteletten angetackerten Mundwinkeln tropfte. Ich schaute mich weiter uninspiriert in den spärlich besetzten Auslagen des Sammlerladens um, in dem mich so rein gar nichts interessierte, bis auf diese eine Sache.

Ich griff zu einer She-Man-Actionfigur, wog den 30-Zentimeter-Amazonen prüfend in der Hand und fragte: „Und der?“
„39,98.“

Ein harter Brocken, das spürte ich. Ich beschloss, dem Kerl noch ein bisschen auf den Zahn zu fühlen, stellte She-Man wieder ins Regal und erwähnte nebenbei: „Ist nicht für mich. Meine Freundin ist leidenschaftliche Sammlerin.“
Das war nicht einmal gelogen. Sah man davon ab, dass Regine erst noch meine Freundin werden sollte. Und hier in diesem ebenso unscheinbaren wie muffigen Geschäft für völlig Abgedrehte hatte ich durch puren Zufall den Schlüssel zu ihrem Herzen entdeckt.

Ich sah auf die Uhr. Noch eine viertel Stunde, bis ich in den Zug steigen musste. Mir blieb wenig Zeit für meine Verhandlungskünste.

Jetzt griff ich zu einem bengalischen Karate-Tiger. Das hässliche Ding war genauso gefärbt wie der Plüschaffe. Ich hielt dem Verkäufer das Kampfkätzchen vor die Nase.
„25,97“, sagte der Freak, der wahrscheinlich mit den Gewinnen aus diesem Basar der Verrücktheiten seine Computerspielsucht finanzierte.

Auch das Karate-Vieh durfte zurück an seinen Platz. Gelangweilt ließ ich meinen Blick schweifen, bis er in scheinbarer Überraschung an dem an exponierter Stelle neben der mittelalterlichen Kasse ausgestellten Schreiber-Sindling hängen blieb, der in einem mit Fantasyelementen dekorierten Karton mit Sichtfolie gefangen war.

Der kleine Kerl, der über seine gesamte Länge von etwa 3,48 cm mit wuscheligem Haar bedeckt war, aus dem an einer Stelle, an der man mit großzügiger Nachlässigkeit seine Hand vermuten konnte, eine weiße Schreibfeder herauslugte, wäre mir niemals aufgefallen, hätte ich nicht aus Regines sich immer wiederholenden schwärmerischen Beschreibungen genau gewusst, wie dieses überaus seltene Exemplar auszusehen hatte. Und es war das einzige Stück, das Regine in ihrer Sammlung noch fehlte.

Ihr ständiges und überaus nervtötendes Geschwafel über Sindling-Figuren hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Andernfalls wäre mir der diletantisch mit rotem Textmarker geschriebene Zettel hinter der gelblichen Scheibe des Schaufensters gar nicht aufgefallen: „Rarität! Schreiber-Sindling – heute reingekommen!“

Nun galt es! „Ist das nicht ein Schreiber-Sindling?“
„Richtig.“
„Das ist ja genau der, der meiner Freundin noch fehlt.“
„Das kann ich mir denken. Der fehlt so ziemlich jedem.“ Eine leichte, fast unmerkliche Aufwärtsbewegung des linken Mundwinkels bewies, dass mehr Leben in dem Mann steckte, als anfangs angenommen.
„Sicher wäre das ein großartiges Geschenk für sie“, fuhr ich fort. „Ich glaube, das kleine Püppchen nehme ich. Was soll es denn kosten?“ Die blasphemische Bezeichnung „Püppchen“ war wohl gesetzt. Nun wartete ich gespannt auf die Antwort. Mir war durchaus bewusst, dass schon die weniger exklusiven Vertreter der Sindling-Sammler-Reihe einen stolzen Preis ihr eigen nannten, der der Größe der Figuren in keiner Weise angemessen schien. Doch da sogar Regine es vermied, über die genauen Beträge Auskunft zu geben, war ich auf eine Überraschung gefasst.

„99,96.“
„Wie bitte?“ Der Schreck war keineswegs nur gespielt. „Das soll doch bloß ein kleines Geschenk werden.
„Das ist der Preis. Es ist eine Rarität.“
„Das mag sein.“ Ich rang mit meiner Fassung. „Aber so viel will ich nun doch nicht ausgeben. Auf Wiedersehen.“ Ich wandte mich zum Gehen.

„An wie viel hatten sie denn gedacht?“
Jetzt hatte ich ihn! „Allerhöchstens die Hälfte, was ich immer noch als sehr viel empfinde.“
„Auf keinen Fall. Es wird sowieso nicht lange dauern und ich bin dieses Goldstück los.“
„Goldstück, aha. Na, dann können Sie ja zufrieden sein.“ Wiederum strebte ich dem Ausgang zu.
„Ich könnte ihn Ihnen für neunzig geben.“

Ich spürte schon jetzt einen zuversichtlichen Triumph in mir aufsteigen, drehte mich um, tat aber keinen Schritt von der Ladentür weg. „Nein danke, bemühen Sie sich nicht. Ich habe gar nicht so viel Geld bei mir.“
„Wie viel haben Sie denn bei sich?“
„Siebzig. Und ich muss noch die Zugfahrkarte bezahlen.“ Ich hoffte, dass ich nicht schamesrot anlaufen würde. Aber ich schien kein schlechter Lügner zu sein.
„Haben Sie denn keine EC-Karte?“
„Kann man hier mit Karte zahlen?“, fragte ich verwundert und in Sorge, meine Strategie würde damit den Bach runtergehen.
„Für die Fahrkarte, meine ich.“
„Ach so.“ Ich war erleichtert. „Aber es sind trotzdem nur siebzig.“

Der Verkäufer schien beim Überlegen noch mehr ins Schwitzen zu kommen als ohnehin schon. Seine Mundwinkel zeigten sich nun beide als beweglich und sackten in den Keller. „Also gut, Sie bekommen ihn für siebzig. Sie sind wirklich gut. So ein schlechtes Geschäft habe ich noch nie gemacht.“

Missmutig packte der arme Mann den Karton in graues Butterbrotpapier, während ich ihm die Scheine auf den Tisch zählte. Als die letzte Banknote auf dem Verkaufstresen lag, bekam ich ein ungutes Gefühl. Ich schaute auf die Uhr. 9.20 Uhr. Ich hatte noch fünf Minuten. Aber irgendetwas stimmte nicht. Ich sah dem Mann zu, wie er eilig das Geld in die Kasse schob. Und langsam dämmerte es mir. Der Tag war noch jung. Wenn der Schreiber-Sindling so begehrt war, warum wartete der Kerl dann nicht einfach, bis der nächste Sammler den Weg in seinen Laden fand und den vollen Preis zahlte?

Ich schaute den Verkäufer an. Seine Mundwinkel hatten zurück zu den Koteletten gefunden. Mehr noch: Sie umrundeten an jeder Seite den Backenbart, um sich mit den haarigen Ohrläppchen des Freaks zu treffen.

Da wusste ich, dass es sicherlich unklug wäre, Regine nach dem wahren Wert des Sindlings zu fragen. Und dass eine ausgeklügelte Strategie immer noch durch eine bessere geschlagen werden kann.